Ich habe lange gezögert, diesen Beitrag zu schreiben. Im Rohentwurf ist er schon seit über acht Wochen fertig. Ich möchte in diesem Beitrag auf gar keinen Fall andeuten, dass Frauen sich nur wehren müssen und dann sei alles gut. Es sollte eine Gesellschaft geben, in der sich-wehren nicht nötig ist. Gleichzeitig sollte es eine Gesellschaft geben, in der Mädchen und Frauen nicht beigebracht wird, nett, lieb und freundlich sein zu müssen, um dadurch Bestätigung zu erfahren.
Nett, freundlich und lieb sein ist eine Option. Aber auf gar keinen Fall, wenn es um unsere Grenzen geht. Es geht nicht nur darum, ein drohendes Sexualdelikt abzuwehren. Nein, es geht darum, für sich selbst einzustehen – sei es zu einer körperlichen Berührung oder auch Nein zum xten Kuchen für irgendein Fest oder Nein zum Vertreter an der Tür.
Mitte Oktober machte ich einen Selbstverteidigungskurs, nachdem ich bemerkte, dass ich mich beim Laufen zunehmend unwohl fühlte.
Für mich ist das ungewöhnlich, denn üblicherweise – auf gut bayrisch ausgedrückt – scheiß ich mir da nix. Ich fuhr als Jugendliche mit dem Radl durch dunkle Schrebergarten-Gassen und ging vor zwei Jahren noch allein nach 23 Uhr vom Herbstfest nach Hause. Wobei mir da durchaus auffiel, dass ich meine Umgebung fortwährend scanne. Hinter mir ging jemand, ich lauschte, ob es sich dabei um ein Paar handelt oder um zwei Männer. Flüsterten sie, bezog sich davon irgendwas auf mich oder nahmen sie gar keine Kenntnis von mir? An dem Abend ließ ich die Beiden überholen, so fühlte ich mich besser. Von hinten hörte ich einen Radfahrer kommen. Veränderte er sein Tempo? Als der Gehweg einen kleinen Knick machte und zwischen Bäumen und Büschen hindurch lief – sehr dunkle Ecke dort – wechselte ich auf die andere heller beleuchtete Straßenseite. Das an mir vorbeifahrende Auto scannte ich ebenfalls, es bog vor mir in die Seitenstraße ein. Fuhr es weiter? Hielt es vielleicht gleich hinterm Eck? Kurz bevor ich in meine Wohnsiedlung einbog, blickte ich mich noch einmal um. Beobachtete mich jemand, wie ich dort hinein ging?
Als ich meinem Partner davon erzählte, meinte er: „Wahnsinn, ich gehe einfach nach Hause.“ Weder mir, noch ihm war dieser Unterschied vorher so klar.
Aus meinem Selbstverteidigungskurs weiß ich, dass sich sehr viele Frauen genauso bewegen. Und ich weiß auch, dass das gesund ist. Ich habe dabei keinen erhöhten Puls, ich habe nicht fortwährend Angst, ich bin einfach nur hellwach und habe alle Antennen auf vollem Empfang. Wenn ich durch eine Unterführung muss und darin ein paar gruselige Typen stehen, dann warte ich, bis noch jemand kommt. Ich versuche einfach, schon vorher bestimmte Situationen zu vermeiden.
Beim Laufen war ich bisher jedoch einigermaßen frei. Selbstverständlich vermied ich es, bei absoluter Dunkelheit und Einsamkeit zu laufen. Dann geschahen drei Vergewaltigungsfälle innerhalb von zwei Jahren in meiner unmittelbaren Umgebung. Einer auf meiner direkten Laufstrecke, bevor ich umzog. Danach zwei im näheren Umkreis – um 11 Uhr vormittags und auf offener Straße um 19 Uhr 30.
Schon immer mied ich absolute Dunkelheit und Einsamkeit. Meine übliche Strecke führt durch viele Felder, im Sommer mit hochgewachsenem Mais, im Winter über weite Flächen einsehbar, aber eben nicht mehr so frequentiert wie im Sommer. Die Angst kam schleichend. Ich drehte mich immer häufiger um, konnte nicht mehr mit Musik laufen, weil ich mich dann unsicher fühlte und weil es mein Scan-Verhalten, das ich üblicherweise am helllichten Tage eher sehr reduziert einsetze, empfindlich störte.
Ich hörte auf, zu joggen. Die Dunkelheit und die Einsamkeit zu meiden – das nützte ja nun offensichtlich nichts. Dabei ärgerte ich mich maßlos, das konnte doch nun wirklich nicht die Lösung sein, ich war nicht bereit, das zu akzeptieren. Und so meldete ich mich zu einem Selbstverteidigungs-Crashkurs an. Natürlich ist ein Crashkurs nur ein sehr kurzer Abriss und man vergisst auch mit der Zeit. Ich habe mir vorgenommen, das mindestens einmal im Jahr aufzufrischen. Außerdem ist das besser als nichts. Ich habe gelernt, dass ich unheimlich viel ausrichten kann und auch darüber hinaus viel für mich mitgenommen und alleine dafür war der Kurs die Zeit und das Geld wert.
Die Sozialisierung von Frauen
Es ist kein Geheimnis, dass Jungs und Mädchen verschiedene Botschaften mit auf den Weg bekommen. Mädchen bekommen mit: Sei lieb, erfahr deine Bestätigung in der Welt, in dem du freundlich zu anderen bist.
Je älter ich werde, desto mehr erfahre ich, wie schlimm wahr das ist.
Der Kurs war ein reiner Frauenkurs. Wir „behandelten“ den Fall: Typ grabscht Frau von hinten an die Brust. Darauf kann man einfach, aber durchaus sehr deutlich reagieren und zwar so, dass der Typ anschließend liegt. Na? Schon empört als Leserin? Too much? Zu krasse Reaktion? Auch im Kurs kam: Aber das kann ich doch nicht machen!
Der Kursleiter war da sehr deutlich. Ungefragt an die Brüste fassen ist eine Straftat und da sollten Frauen sich wehren (können). Und zwar nicht nur verbal, sondern deutlich und massiv. Er sagte auch, dass die Alkohol-Ausrede Quatsch ist. Er sei 50 Jahre alt und hätte auch schon mal einen übern Durst getrunken. Und er sagte, er hätte immer gewusst, was nicht mehr geht.
Interessanterweise können die Typen ja noch so betrunken sein, treffen tun sie ja dann beim Grabschen dennoch. Vielleicht ist dieser Fall hier noch einfach. Aber was, wenn man mit einem Typen quatscht, eigentlich ist bisher alles ganz nett und plötzlich kippt das? Dies fragte eine junge Frau im Kurs. Der Kursleiter meinte: Dann sag ihm genau das! „Du, bis hierhin war es nett, aber du bist nicht mein Typ und mehr als das hier wird es nicht geben.“
Es hat weh getan, an anderen Frauen diese Hemmungen zu sehen, in diesen Spiegel zu blicken. Mir ist klar geworden, wie sehr die Sozialisierung uns hemmt und wie schädlich das für uns selbst ist – wie gesagt, nicht nur im Ernstfall, auch schon im Kleinen.
Privat, beruflich, öffentlich – reagiere sofort!
Das ist die für mich wichtigste Erkenntnis: Egal in welchem Bereich deine Grenze überschritten wird, reagiere sofort. Es geht nicht um die großen Dinge, es geht schon um die ganz kleinen, um die, die sich einschleichen, immer größer werden, bis sie kaum noch aufzuhalten sind. Lasse ich Grenzüberschreitungen regelmäßig zu, neigen sie dazu, lawinenartig größer zu werden.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass das hier keine Schuldfrage ist. Grenzen sollten gar nicht erst überschritten werden. Dennoch passiert es und bis das nicht mehr so ist, haben wir Frauen Möglichkeiten, Grenzen einzufordern. Wir dürfen uns schützen. Meinen Kindern – beide Mädchen – sage ich ganz deutlich: Wenn dir einer doof kommt, setze die Grenze. Sei unbequem und fordere die Einhaltung deiner Grenze ein. Mir hat das nie einer gesagt, gar erlaubt. Und das hat sich oft gerächt.
Im beruflichen Umfeld bedeutet das: Kommt dir der Kollege zu nahe, reagiere. Und zwar sofort. Sag ihm: „Du bist zu nah.“ Gehe auf die Seite. Lege seine Hand weg. Lächel nicht! Sag ihm, er soll von deinem Schreibtisch aufstehen, nimm selbst Abstand, aber lass ihn nicht machen.
Dasselbe gilt für den Partner. Als ich 19 war, hatte ich einen Freund, der hätte mich hundertprozentig irgendwann verhauen. Als die ersten Anzeichen kamen, war ich sauer, ja. Aber erst nach viel zu vielen Situationen habe ich mich gerade und mit vollem Augenkontakt vor ihm platziert und gesagt: „Das machst du nie wieder!“ Viel zu spät und nachträglich ärgert mich das maßlos.
Im öffentlichen Bereich sind Übergriffe als solche natürlich sofort erkennbar, weil man sich nicht kennt und die Grenzüberschreitung sofort wahrnimmt. Da wird man sofort massiv und laut und darum ging es hauptsächlich in dem Kurs.
Es geht viel mehr, als wir glauben.
Der Kurs hat mir unwahrscheinlich viel Selbstvertrauen zurückgegeben. Ich gehe wieder laufen und zwar entspannt. Ich weiß, dass ich verdammt stark bin. Ich bin 1,65 cm groß und wiege 60 Kilo. Und dennoch traue ich es mir zu, mich selbst zu verteidigen. Weil ich nun weiß, wie. Weil ich mich im Kurs erlebt habe. Und ich weiß, dass ich gute Chancen habe, etwas auszurichten.
Es gibt eine Statistik* der Polizei Hannover. 522 Sexualstraftaten wurden hinsichtlich des Gegenwehrverhaltens untersucht.
Leistete die Frau keine Gegenwehr, kam es in 74 % der Fälle zur Durchführung der Tat.
Bei leichter Gegenwehr waren es 36 %.
Bei massiver Gegenwehr kam es in „nur“ 15 % der Fälle zur Durchführung, in 85 % der Fälle kam es also zum Abbruch der Tat. In (nur!) einem Fall kam es zu einer nicht kontrollierbaren Gewalteskalation.
Beeindruckend in dem Zusammenhang finde ich, dass leichte Gegenwehr bedeutet: Sich entziehen. Sagen: Geh weg! Lass das! Nein!
Als massive Gegenwehr gilt: Treten, Schlagen, lautes Schreien, Beißen, an den Haaren ziehen. Der Kursleiter meinte, das wäre nur ein kleiner Teil von dem, was wir in dem Kurs gemacht hätten.
Im Grunde ist das ein wenig wie beim Erste-Hilfe-Kurs. Es ist gut, diese Fälle zu üben, damit man im Ernstfall nicht baff dasteht, sondern einfach abspulen kann.
*Paul, Susanne (1996): Studie der Polizeidirektion Hannover zum Gegenwehrverhalten bei Sexualstraftaten für die Jahre 1991-1994, 522 Fälle.